Sport & Gesundheit

Der Schmerzschrittmacher – Wenn nichts mehr hilft

Etwa 17 Prozent der Einwohner in Deutschland, so besagen Statistiken der Deutschen Schmerzgesellschaft, leiden unter chronischen Schmerzen, also mehr als zwölf Millionen Menschen. Sicher kann davon ausgegangen werden, dass die Intensität der chronischen Schmerzen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Wie sehr aber starke chronische Schmerzen die Lebensqualität beeinträchtigen, ist für Menschen, die nicht selbst betroffen sind, kaum nachvollziehbar.

Um diese chronischen Schmerzen einzudämmen, sind die Patienten meist gezwungen, dauerhaft hohe Dosen an Schmerzmedikamenten zu nehmen. Die Einnahme von Schmerzmitteln über einen längeren Zeitraum begünstigt aber ihrerseits neben Magen-Darm-Beschwerden auch Nierenschäden und Abhängigkeit. Und es kommt ein weiterer Punkt hinzu: Die Patienten leiden nicht nur an ihren Schmerzen, sie erfahren auch zunehmende körperliche Einschränkungen im Alltag, oft verbunden mit depressiven Verstimmungen, Ängsten, Schlafstörungen und allgemein verminderter Konzentrationsfähigkeit.

Wie entsteht die Schmerzempfindung?

Grundsätzlich wird zwischen nozizeptiven Schmerzen und neuropathischen Schmerzen unterschieden. Die nozizeptiven Schmerzen entstehen durch Reize, die aus einem Gewebeschaden resultieren. Die können mechanische Einflüsse, Sportverletzungen, Zustände nach einer Operation oder auch Krisen bei angeborenen oder erworbenen inneren Erkrankungen sein. Neuropathische Schmerzen dagegen entstehen als Folge einer Funktionsstörung oder Läsion des Nervensystems. Ursachen können beispielsweise ein Bandscheibenvorfall, eine Trigeminusneuralgie oder etwa diabetische Polyneuropathie sein. Und es gibt Mischformen, bei denen sowohl nozizeptive als auch neuropathische Schmerzen gleichzeitig auftreten.

Das Schmerzempfinden entsteht, weil Schmerzsignale als Impulse über die Nerven, das Rückenmark und den Thalamus in das zentrale Nervensystem geleitet werden. Dort werden Schmerzen bewusst wahrgenommen und emotional bewertet. Erst hier entsteht also das eigentliche Schmerzempfinden. Wird nun die Weiterleitung der Impulse durch das Rückenmark mittels elektrischer Stimulation gestört, spricht man von einer Neuromodulation oder Rückenmarksstimulation. Durch diese Stimulationen wird das betroffene Nervengewebe gereizt, sodass die eigentlichen Schmerzsignale überlagert werden. Häufig zu beobachten ist, dass sich die Schmerzsignale in eine leicht kribbelnde Empfindung verwandeln, die von den Patienten meist als angenehm empfunden wird. Aber auch hier entwickelt sich die Technologie weiter, sodass mittlerweile auch eine Stimulation ohne Kribbeln möglich ist.

Ein Beispiel

Ein 59-jähriger Patient litt seit drei Jahren unter zunehmenden belastungsabhängigen Lumboischialgien auf der linken Seite, also unter ziehend-stechenden Schmerzen, die vom Rücken in das linke Bein und bis zum Fuß ausstrahlten. Die Schmerzen waren so stark, dass er trotz der Einnahme von drei verschiedenen Schmerzmitteln, darunter ein hoch dosiertes Morphiumderivat, maximal 50 Meter ohne Pause gehen konnte. Die Diagnostik zeigte, dass der Patient, der vor 30 Jahren erfolgreich an einem Bandscheibenvorfall zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbel operiert worden war, nur leichte degenerative Veränderungen der Wirbelsäule hatte, nicht jedoch eine Kompression der Nervenwurzeln oder einen erneuten Bandscheibenvorfall, die diese Schmerzen hätten hervorrufen können. Ursächlich für die starken Schmerzen war eine Erkrankung der L5-Nervenwurzel.

Anstatt eine Versteifung der Wirbelsäule zu empfehlen, wurde gemeinsam mit dem Patienten beschlossen, das Ansprechen auf eine Neuromodulation (engl. spinal cord stimulation (SCS)) zu testen. Hierbei wurde im Operationsaal unter sterilen Bedingungen in örtlicher Betäubung unter 3-D-Röntgenkontrolle eine ca. 2,5 Millimeter Durchmesser große Elektrode im Wirbelkanal hinter dem Rückenmark im Bereich der unteren Brustwirbelsäule platziert und die Elektrode zunächst mit einer Verlängerung im unteren Lendenbereich durch die Haut ausgeleitet. Über einen äußeren Impulsgeber wurde das hintere Rückenmark stimuliert, und es kam zu einer Überlagerung der Schmerzen im linken Bein durch angenehmes Kribbeln.

Schon während der Testphase konnte der Patient seine Schmerzmedikamente bereits erheblich reduzieren, sodass eine dauerhafte Implantation eines permanenten Impulsgebers vorgenommen wurde. In einer kurzen Vollnarkose wurde ein Generator im Bereich des Gesäßes unter der Haut implantiert (ähnlich dem Generator eines Herzschrittmachers). Innerhalb eines halben Jahres konnte der Patient seine Schmerzmittel fast vollständig reduzieren und hatte eine weitgehend schmerzfreie Gehstrecke von ca. fünf Kilometern. Die Steuerung der Impulsstärke der Stimulation erfolgte über ein Handgerät.

Schematische Darstellung der Funktionsweise des SCS Medtronic

Ein bewährtes Verfahren

Bei der Neuromodulation (epidurale Rückenmarksstimulation oder auch engl. spinal cord stimulation (SCS)) handelt es sich um eine reversible Modulation der Rückenmarksfunktion, mit der sogenannte neuropathische Schmerzen behandelt werden können. Das Verfahren kommt bereits seit über 50 Jahren zur Anwendung. Mit den ersten Geräten konnte nur der Beinschmerz mit tonischer Stimulation im Frequenzbereich von 50 bis 80 Hz gut behandelt werden. Durch die Entwicklung von wiederaufladbaren Generatoren, die durch die Haut aufgeladen werden können, war die Stimulation mit weiteren energieintensiveren Stimulationsarten (Hochfrequenzstimulation, Burst-Stimulation etc.) möglich, bei denen auch die Kribbel-Missempfindungen nicht mehr auftreten. Mit dieser Technologie können nicht nur Beinschmerzen, sondern auch tiefe Rückenschmerzen gut behandelt werden. Die Geräte der neuesten Generation verfügen über eine sogenannte Closed-Loop-Technik und reagieren damit beispielsweise auch auf Einflüsse wie Lageänderungen, Hustenattacken o. Ä., indem sie die Impulsstärke regulieren. Mittlerweile ist das Verfahren aus dem experimentellen Stadium heraus, und es existiert seit 2010 eine S3-Leitlinie nach dem System der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF). Die S3-Leitlinien stellen die höchste Stufe solcher Leitlinien dar, und in dieser Leitlinie wird die Neuromodulation mit einem hohen Empfehlungsgrad beurteilt.

Verfahren der Neuromodulation können auch bei anderen Schmerzerkrankungen eingesetzt werden, hierzu gehören das chronische regionale Schmerzsyndrom (früher Morbus Sudek), es gehören dazu Phantom- und Stumpfschmerzen, die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK-Schaufensterkrankheit), die Angina pectoris, die Polyneuropathie oder auch die Behandlung von Funktionsstörungen der Blasen- und Analsphinkterfunktion.

Neurostimulationsverfahren sind sehr teure, aber insgesamt auch risikoarme, nebenwirkungsarme und reversible Verfahren, die im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes eingesetzt werden können und insbesondere zur Reduktion von Nebenwirkungen einer dauerhaften Schmerzmitteleinnahme führen. Durch die Einsparung teurer Schmerzmittel kann sich das Verfahren häufig innerhalb von zwei bis vier Jahren amortisieren. Die Kosten der Behandlung werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.

Aber auch wenn es sich um ein risikoarmes Verfahren handelt, sollte die Indikation sorgfältig von einem mit dem Verfahren vertrauten Arzt für Neurochirurgie oder Schmerztherapie unter Nutzen-Risiko-Abwägung gestellt werden. W

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Stephan Carl Wenzel,
Facharzt für Neurochirurgie,
Klinik LINKS VOM RHEIN

Gastautor: Stephan Carl Wenzel, Facharzt für Neurochirurgie, Klinik LINKS VOM RHEIN

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe DIE WIRTSCHAFT 04 / 2024

Bildquellen

  • Zeichnung Stimulationssystem im Körper: Illustration: Medtronic
  • Stephan Carl Wenzel: Wimar Zmimemrann
  • joyce-hankins-IG96K_HiDk0-unsplash: Foto von Joyce Hankins auf Unsplash
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